Die Toten von Korinth

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DIE MAHNUNG DER TOTEN VON KORINTH

Sich dem Mythos »Medea« zu nähern bedeutet, sich mit einem der ältesten Familiendramen der Kulturgeschichte auseinanderzusetzen: die sitzengelassene Gattin, die aus Eifersucht das Schlimmste tut, was eine Mutter tun kann, nämlich die gemeinsamen Kinder zu ermorden – nachdem sie vorher schon die Nebenbuhlerin vergiftet hatte. Heute wissen wir, dass der Mythos eher eine Sage ist als eine wahre Begebenheit. Es handelt sich bei dem grausamen Kindsmord um eine Metapher über den Umgang miteinander und die Achtung der Würde des Menschen.

Im Libretto der Oper von Gaetano Marinelli bleiben am Ende zwei Männer zurück, die drei Tote beklagen müssen. Die eine ist Glauce, die Tochter Kreons und neue Geliebte des Jason, die anderen sind die beiden Kinder Medeas uns Jasons.

Sind Jason und Kreon nun also vom Schicksal geschlagen, oder hätten sie diese Katastrophe verhindern können – haben also eine Mitverantwortung? Nach der Analyse ihres Verhaltens gibt es nur eine Antwort: ja, auch sie haben ihren Anteil daran, dass Medea keinen anderen Ausweg fand, als ihren Kindern das Leben zu nehmen. Ein Leben, dass sie als versklavte, rechtlose Menschen in einem Herrschaftssystem hätten leben müssen, in dem sie wohlmöglich dazu gezwungen gewesen wären, als Heranwachsende in den Krieg gegen die Heimat der eigenen Mutter zu ziehen. Denn Kreon hegte Hass und Abneigung gegen die »Wilden aus Kolchis«. Vermutlich wären Medeas Kinder als Kanonenfutter in die Schlacht geworfen worden. Dieses Leben wollte Medea ihren Söhnen ersparen.

Und hätte Jason nicht versuchen müssen, Medea die Demütigungen zu ersparen? Er verlässt seine Frau, die als Fremde in einer ihr feindlich gesinnten Welt auf alles verzichten soll, was sie als Person ausmacht: Sprache, Bräuche, Religion, die Erziehung der Kinder. Als Grieche, dem sogar die Königstochter versprochen wurde, war er in Korinth ein privilegierter Hilfesuchender. Er wusste, dass Medea als Flüchtige ohne ihn kein Bleiberecht hatte.

Selbst, wenn es irgendeine Möglichkeit für sie gegeben hätte, zu bleiben, hätte sie ihre Kinder dennoch dem kaltblütigen Herrscher Kreon überlassen müssen, mit der Aussicht auf eine Leben wie oben beschrieben.

Man möchte den beiden Männern sagen: wenn ihr nur einen Funken Empathie hättet aufbringen können, um die Verzweiflung Medeas zu erkennen, hätten sich drei Morde verhindern lassen. Diese unschuldigen Toten erinnern uns aber daran, dass sich die Qualität einer Gesellschaft – hier die der Korinther – immer daran misst, wie sie mit Minderheiten und Ausgegrenzten umgeht. Im Fall der Medea ist die Aufnahmegesellschaft kollektiv gescheitert.                                                                                                              GN 2016

 

Theater Stok, Zürich
Bis 30. Oktober 2016